littérature.literature.סִפְרוּת.literatur.литература.المؤلفات

SALUT
L°ABSURDITÉ

SALUT L°ABSURDITÉSALUT L°ABSURDITÉSALUT L°ABSURDITÉ

SALUT
L°ABSURDITÉ

SALUT L°ABSURDITÉSALUT L°ABSURDITÉSALUT L°ABSURDITÉ
  • Anmelden
  • Konto einrichten

  • Mein Konto
  • Angemeldet als:

  • filler@godaddy.com


  • Mein Konto
  • Abmelden

Angemeldet als:

filler@godaddy.com

  • salut.
  • über SLA.
  • manifest I.
  • manifest II.
  • einsamkeit.
  • literatur.
    • drama.
    • lyrik.
    • prosa.
  • arbeitsbereich:
  • autor:innen.
  • das magazin: print.
  • einsendungen: 2:2022
  • archiv.
    • prosa.

Konto


  • Mein Konto
  • Abmelden


  • Anmelden
  • Mein Konto

prosa

excerpt.Выдержка.aoystsug.extrait.مقتطفات.

Nr°6

Atari.

Daniel Schulz.


    °1

    Schmerz

    Freiheit, kleines Wort 

    was bist du doch hart zu mir 

    forderst mich heraus; machst mich verlangen und wehmütiges Klagen 

    was sehne ich mich nach dir 

    .

    Scheinst mir im Traum, in Leben weggelaufen. 

    Blendest mich; beinah erblindet. 

    Wie sehne ich mich noch nach dir 

    !

    Höre mich klagen! 

    Wo bist du jetzt meine Freiheit, nach der ich mich sehne? 

    Du warst bei mir und ich lernte dich klagen, jetzt bin ich hier und verzweifelt deiner Plagen. 


    Die Luft ätzt sich in die Lungen, die Kälte lässt die Haut, Augen und den Atem erstarren. Die Finger winden sich um das metallene Gerüst, das mich mit dem unter mir liegenden grünlichen Tief des Wassers verbindet - mit dessen dünner Eisschicht als Schutz vor der Welt. Wie mich das grüne Paradies mit seinen hellen Tälern zu sich ruft. Die Äste ragen ihre dünnen, alten Ärmchen in die Luft und setzen sich durch ihr verfallenes Grün von dem tief zu Boden hängenden Himmel ab. Noch bevor sie nach mir greifen können, drehe ich mich zurück zu dem Gleis, das verloren auf die Spuren der vergangenen und kommenden Fahrten verweist. Wie sich das Gleis vor mir auftut, sich die begrabenen Gedanken aus ihrem jüngsten Grab befreien und sich vor mir aufbäumen, als kleine Geister, grinsend von der einen zur anderen Seite springen, mir ins Ohr flüstern mit ihren begehrlichen Worten, ihrer sanften Stimme, hinter der sich ein unerbittliches Kratzen verbirgt. Das Schönste verbirgt immer das Schrecklichste, um das Begehren zu wecken, die Angst zu lindern und dabei in den größten Schrecken zu führen, der auch den ersehnlichste Wunsch stillen kann. Die Gedanken verführen mich mit ihrem leichten Klang, meine Schritte setzen sich schwebend weiter in die Nähe des Gleises fort. Vor dem nächsten Schritt durchfährt mich ein kalter Schauer, als dessen Antwort mein Blick zu der Anzeige flieht, auf der in greller Schrift die Zahl 3, dann 2 und dann 1 aufleuchtet. Während die Bahn vor mir hält, graben sich die Gedanken wieder zurück in ihr bekanntes Grab. Legen sich aber nicht zur Ruhe, sondern auf die Lauer, für den nächsten Augenblick, die nächste dunkle Minute, in der ich erdrückt werde von einem Grau, das nicht Dunkelheit, nicht Helligkeit ist, und gerade darin seinen Schrecken hat. Ein undefinierbares Grau, das mir auf die Brust drückt, erst mit der einen Hand, dann mit beiden Händen und schließlich mit dem schwerfälligen Gewicht jeder Hoffnungslosigkeit, die den Namen Verzweiflung trägt. 

    Verzweifelt. 

    Beim Betreten der Bahn blicken mich Fratzen an, ich senke mein Gesicht, verstecke mich und sehne mich doch danach, ihnen entgegen zu springen, sie zu erschrecken, ihnen durch das Gesicht zu fahren, meine Nägel tief in ihre Haut zu kerben, um sie dann ganz langsam zu zerreißen, jede Minute des erbärmlichen Schmerzens genießend, der mir aus ihren Gesichtern entgegenspringt, das Spiegelbild, das mich am Morgen begrüßt und als das Bildnis meiner schon längst verlorenen Seele mein einzige Abbild ist. Mein Körper lässt sich auf einer der Sitzreihen nieder, die nicht nur aufgrund des sie ummantelnden Dreckes Ekel hervorrufen. Mehr noch ist es die Wärme des anderen Körpers, die unerwünscht zu mir vordringt, mich zusammenfahren lässt, meinen Mantel weiter schützend um mich legt. Zu beiden Seiten den maximalen Abstand, suchen, die Augen einen Ausweg; aussichtlos, beginne ich mich mit meinem Dasein abzufinden, den Blick auf die Stationen fallen zu lassen, die auf einer Legende in bitterer Ironie zu mir hinunterlachen, dabei die Zeit verzerren und sich an meinem Leiden frönen. Abgelöst wird mein starrer Blick durch die Aussicht auf die nackte Stadt, deren totes Gemüt sich in die Weite streckt, über den Park, in dem sich dunkle Massen mit ihrer Umgebung verbinden, hin zu den weit entlegenen Häuserreihen, in denen die Schattenbilder der Menschen von deren stetigen Versuch zeugen, sich der täglichen Illusion des glücklichen Lebens hinzugeben, die nicht erkennen können, welche Erbärmlichkeit sie umgibt, die sich in der einsamen Routine verbirgt, mit oder ohne Jemanden, doch immer allein. Deren Selbstbetrug sich in den nach außen gesprochenen Worten, den erfundenen Geschichten zeigt, Konstrukte des zelebrierten Glücks, das mehr einen selbst als den Anderen überzeugen soll, weiß das Gegenüber doch schon unlängst, welches Unglück sich hinter jedem Glück verbirgt, dessen Worte nur der billige Stoff sind, damit sich die Einsamkeit weniger einsam und die Leere weniger zerreißend anfühlt. Und irgendwann sehen sie im Spiegel weder sich selbst noch die Erinnerung an ein kaum bekanntes Ich: Eine Hülle, gefüllt mit dem Wunsch nach einem anderen Leben. Die Bahn hält ein weiteres Mal, eines der unzähligen Male, bevor ich erlöst werde, doch nicht von meinen Gedanken, die Erlösung suchen. Ein kurzer kalter Luftzug, erinnert mich an diese vergrabenen Gedanken, die aus ihrem Grab zu mir hinaufschreien und mich zu sich einladen. Ich sehe zu meinem linken Handgelenk, an dem sich die unmerklich in meine Haut gebohrten Spuren meiner Nägel abzeichnen. Die kleinen, nun langsam blau anlaufenden Sicheln, die in ihren regelmäßigen Abständen ein wunderschönes halbrundes Muster hinterlassen. Der Schmerz, wie er in seiner Harmonie langsam meinen Arm hinauf zu meinem Herz zieht, in dem er sich niederlässt, und eine Symphonie mit den hier gesammelten Noten einspielt. Bis die Symphonie verstummen wird. 

    Die Bahn hält. Das Gleis ist leer. 


    Alles was ich jemals vom Leben wollte, war nicht zu leiden, und alles was ich durch das Leben erfuhr, war das Leiden.

    About

    2021

    Sasha Babel

    °2

    Die Wolle der Jahre

     Wir saugen Geschichten auf, weil sie die Löcher unserer Sehnsüchte spachteln, da wo der Wind reinbläst und uns frösteln macht. (In den Geschichten ist nämlich alles wahr, was uns das Leben verwehrt.) Sie trösten uns darüber hinweg, dass wir ängstlich sind, uns der Liebe nicht wertschätzen und leeren Zielen hinterherhecheln. Es gibt Geschichten, die uns lange begleiten, so lange, bis wir nicht mehr wissen, ob wir sie nicht doch selbst erlebt haben. Sie fordern uns dazu auf, unsere ungestillten Träume einzufordern (als hätten wir ein Recht darauf). Und am meisten wollen wir Geschichten über die Liebe hören. (Und jedes Liebespaar glaubt an sein Glück, bis das Gerüst bricht.) Wir lassen uns also täuschen von den Worten, aus denen wir mehr heraushören, als sie in Wirklichkeit erzählen. Jede Geschichte ist nämlich ein Chamäleon, das ebenso die Farbe desjenigen annimmt, der sie erzählt, als auch die von euch allen da draußen, die sie lesen (in welchem Zustand ihr auch gerade seid). Das hier ist die Geschichte von Rosalin und Bruno, eine Geschichte vom Suchen, Finden und Verlieren, doch in erster Linie ein Märchen in einem Schloss aus Salz. Du lachst? Ja, vielleicht kommen auch abgehalfterte Hexen vor, fliegende Drachen, Monster in Flüssen … 

     Fortlaufend zerknittern wir die Wirklichkeit, zerknüllen Erlebtes, werfen es hinter uns und können trotzdem nicht loslassen. Dann streichst du das Papier wieder glatt, schreibst die Geschichte um, verwirfst deine Ideen, lässt sie nicht einmal keimen, keine Chance, auch nur ein kleines Würzelchen in die Erde zu treiben, denn davor hast du es schon wieder ausgerissen und den ganzen Topf vom Balkon hinunter auf den nächstbesten Schwachkopf geworfen. Und dann wunderst du dich, dass kein Baum wächst? Reiß dich zusammen und erzähl diese Geschichte. Orientiere dich nach Süden, das ist ja nicht so schwer, jeder Idiot kann eine Armbanduhr in das Licht halten, und fang an. Wie, du verstehst das nicht? Finde die Richtung und marschiere los. Du gibst der Geschichte ihr Oben und Unten, sie gehorcht der Erdumdrehung und der Schwerkraft, du kannst nicht so viel falsch machen. Wie, bei dieser Geschichte sei das anders? Sie hat kein Vorher und kein Nachher, sondern nur ein einziges Zentrum? So eine Geschichte gibt es nicht. 

     Der Jahreskreis hat keine Bedeutung an diesem Ort, der gleichzeitig Frühlingstemperaturen und Schneegestöber trägt und an dem man immer erntet. Manchmal fallen Frösche vom Himmel und wenn du zu lange auf einer Lichtung verweilst, wächst Moos über deine Menschenhaut. In meinem Nest liegen Eier in verschiedenen Weißabstufungen von schimmernd bis matt. Drei Stück, doch ich bebrüte sie nicht. Wir leben in einem Schloss mit Zwiebeltürmen, die das Sonnenlicht reflektieren, und einer gläsernen Terrasse, von der man bis zum Meeresgrund sieht. In jedem Raum eine Galerie voller Bilder und an den Decken herabbröckelnde Fresken, doch am liebsten mag Rosalin das Schmetterlingshaus neben dem Schwimmteich voller kobaltblauer Seerosen. Überall im Schloss befinden sich versteckte Türen und kleine Zwischenräume, in denen weiße runde Lampen leuchten. Manchmal lässt Bruno die Treppen verschwinden und sie balancieren über schmiedeeiserne Geländer, um von einem Zimmer zum anderen zu gelangen. Das Schloss hat viele Zimmer (ich mag das Muschelzimmer am liebsten) und im Spiegelsaal hat Bruno eine Badewanne aus schwarzem Glas gebaut, deren Ränder mit Gold eingefasst sind. Wenn das Schloss sich schlafen legt, duftet es in jeder Ecke nach Lavendelmousse. Noch sind sie eine Ahnung des Glücks, das möglich sein könnte (Perlenschnüre voller Lachen.)

     Beginn doch in der Vergangenheit, mit Sätzen, die mit „Ich erinnere mich“ beginnen, auch wenn sie alle erfunden sind. Ohne Erinnerung bist du gar nichts. Alles, was dich formt, die Farben und Gummibänder, die dich zusammenhalten, sind schon da, angehäuft durch all den Schmerz und dem Gefühl, das wir stümperhaft Liebe nennen. Jedes Wort da draußen rührt neue in dir an, jedes Bild zielt darauf ab, dir das Gefühl zu geben, ein Teil von allem zu sein. Vom Flirren des Asphalts in der Mittagshitze, von der Eisdecke über dem See, von den Stürmen und dem peitschenden Regen, ein Teil der Massen von Ameisen, Vögeln, Schlangen, Bäumen, der Felder voller Weizen. Jedes Wort eine neue Geschichte, mit Ebenen, die niemand unter Kontrolle hat, auch der Meister der Zeitspule nicht. Du wirst zu Szenen jedes Films, den du gesehen hast, zu jeder Zeile von Liedtexten, Berührungen, Blicke, plötzlich fällt dir alles wieder ein, einfach so, eine Wucht an Bildern, und du wirst zurückkatapultiert in Stunden, in denen du geküsst oder verlassen worden bist. Doch das stimmt so nicht: wir erinnern uns nicht an die konkrete Stunde, in der wir verlassen wurden, sondern an die Zeit danach, das Fallen in eine Dunkelheit, die alle Momente, auch die schönen, verfärbt. Wird nicht jede Apfelblüte zu einem Ball voller Maden? Das, was wir Erinnerung nennen, ist ein Loch der Tränen, das wir zu einem Gebirgssee verklären. Und vielleicht ist es mit der Erinnerung wie mit den Träumen von Schriftstellern, in denen sie in der Nacht auf Wörtern surfen und wenn sie aufwachen, können sie nur noch einzelne Scrabble-Steinchen herausziehen und stehen vor Trümmern. So läuft das nämlich mit der Erinnerung: Sie betrügt dich fortlaufend. Sie tut so, als sei sie ein vielfedriges Tier, doch sie ist nur ein löchriges Netz, und wenn du hin greifst, ist es schon kaputt. Ins Netz der Erinnerung kommt jedes Mal ein neuer Knoten, wenn etwas Erinnerungswürdiges passiert. Und die Erinnerung ist an dich geknüpft, denn wieso sollte es all das geben, wenn nicht du es erleben würdest? 

     Gut. Lass uns beim Frühling beginnen, den Rosalin ruft, indem sie ins Horn (und die Sehnsüchte der Welt) bläst. Rosalin kam nämlich jedes Jahr zur gleichen Zeit und immer in anderer Gestalt. Einmal war sie ein roséfarbener Wellensittich, der von der Vorhangstange über dem geöffneten Schlafzimmerfenster auf den Perser kackte. Das Jahr davor war sie eine gelbgemusterte Schlange, die Bruno im Garten erschreckte. Einmal kam sie als Flügelrossfisch (das ist ein Stachelflosser, musst du wissen, ein Seenadelartiger, wie die Seemotten – büschelartige Kiemen, Flossen mit unverzweigten Strahlen, großes Lacrimale, keine Schwimmblase, neun knöcherne Ringe um den Schwanzflossenstiel). Oder war es doch ein Seepferdchen, dessen Kopf dem eines Pferdes ähnelt, der Hinterleib dagegen ist ein genoppter Wurm?
    Als Rosalin als Waldgeist kam, lachten wir über den Versuch, sich derart zu tarnen, dass Bruno sie nicht im Schlossgarten finden sollte. Ihre Performance als Lindwurm war leicht übertrieben und wir konnten sie noch lange damit aufziehen. Auch der Auftritt als Medusa lief unter der Kategorie „weniger wäre mehr“ gewesen. Als Vampir kamen ihre Augen richtig gut zur Geltung, doch Bruno weigerte sich eine Woche lang, sich von ihr küssen zu lassen. Einmal stakste sie als Storch durch den Garten, ich verliebte mich sofort. (Ein Herz wächst auch nach einem großen Schmerz zusammen, doch man kann es schnell an den unterschiedlichsten Stellen einreißen.) Wenn Rosalin kommt, leuchten die Farben leuchten tiefer und die Zeit beginnt erneut zu atmen.

     Ich sag dir, wie das mit der Zeit wirklich funktioniert, du dachtest, das ist eine Linie und etwas passiert und deshalb passiert etwas anders. Blödsinn. Die Zeit ist auf einer Spule, deren Wicklungen Magnetfelder erzeugen (call it magic moments!), also diese Spule, schleißig aufgewickelt vom Herrn der Gezeiten, der knorrige Finger hat und auch ein kleines Alkoholproblem, seit, nein, das erzähle ich ein anderes Mal… Auf jeden Fall bekommt jeder so eine Spule bei seiner Geburt und sie wickelt sich von selbst ab und macht Knoten bei Augenblicken, bei denen dein Herz stehen bleibt. Davon gibt es nicht viele, ich weiß. Und dann macht es noch kleinere Knötchen bei all diesen Momenten, bei denen du denkst, du wirst sie nie, wirklich nie vergessen. (Was trotzdem passiert.) Doch am Ende bleibt davon nichts übrig. All das Lachen und Gläserklirren und die ausgelassenen Feiern, spielende Kindern und verloren gegangene Luftballone, das Schwimmen im kalten Fluss, alles verloren, zerfallene Schattenmühlen! Du musst nur an einem abstehenden Faden ziehen und schon löst sich alles auf. Als ob du es nie erlebt hast. Also verschwende deine Zeit, solange es dir möglich ist. 

     Nimm einen Löffel und koste ihre Geschichte, denn noch häuten sie gemeinsam die Nacht. Sie schälen und schaben, ganz langsam, mit Zestenreißern, schälen sie die Nacht in lange Zitronenmondsicheln, sie ordnen die Fäden und weben sich gegenseitig Blendklappen. Rosalin trägt Blumenzeichnungen auf ihrem Körper und zopft ihr Herz an seines. Sie vermessen die Reiche neu und entdecken Sternbilder auf der Haut. (Da, der große Wagen auf Rosalins Bauch!) Zittern, wenn sie einander küssen, zwischen Halskuhle und Ohrläppchen. Am Morgen bemalt die Sonne die Körper mit Schattenflecken. Sie glauben, dass der Geruch von Pfirsich im Haar für immer anhält, doch bald wird der Atem im Puppenhaus bitter sein. (Bruno wird Glühwürmchen im Glas sammeln und ihnen die Namen geben, die er ihr zu geben vergessen hat, als alles noch einfach war.) Sie wird den gläsernen Globus bereisen und die frühere Geschmeidigkeit suchen. Sie wird sich nicht mehr um den Schneefall im Schloss kümmern und die Hyazinthen verwelken lassen. Ich werde mit ihren Worten Ping Pong spiele, mit den großen Worten und mit den ungesagten, mit den unaussprechlichen und den nicht denkbaren. Denn noch wissen sie nicht, dass sie bald bitteres Gold schlucken, im Regen Mandeln schälen, Dynamit in ihren Adern finden werden. Rosalin durchmisst den Kontinent in seinem Auge, spaziert mit den Fingern durch seinen Bart. (Die Jahre der Liebe werden graue Flecken auf der Wand hinterlassen.) Noch murmeln sie, murmeln nächtelang die Kissen voll. (Ich wünschte, ich könnte auf das Dunkle zwischen ihnen treten wie auf Kakerlaken.) Das Windrad auf dem Fensterbrett dreht sich schnell. Es regnet gelbe knallende Samen vom Himmel und peitscht Äste vom Baum. Ich halte immer noch das Universum zusammen, doch mir entgleiten die Zügel und wir stehen am Beginn einer Geschichte, die wir nicht mehr kontrollieren können. Noch kämme ich jeden Tag meine Worte, die schon mit Flammenwerfern dekoriert sind. Ich richte meinen Kompass nach Frühling aus, und doch: vereinzelte Graupelschauer und Bodenfrost. Mit den Krallen halte ich das Gitter aus liebgemeinten Lügen, während sie Feigen essen. Ich weiß, dass all das, was sie hier leben, schon vorbei ist. Und die Farben gar nicht so prächtig. Schwarzblau am ehesten. Und doch hören wir am liebsten die Geschichten, die uns vorgaukeln, es gebe ein Leuchten, das bleibt. (Und natürlich spielt diese Geschichte nicht in einem Schloss. Das wäre ja zu schön gewesen.) 

    About

    2021

    Britta Badura

    Graz

    Weitere Informationen

    °3

    Lyma

    Natürlich wäre er nie Bürgermeister geworden, wenn er sich seiner Wählerschaft nicht aufzupfropfen gewusst hätte, wodurch es ihm gelang, zu ihrem hübschen Rankenwerk zu werden und sich damit einer Kaste anzubiedern, der er nicht angehört, ja, niemals angehören kann, weil ihm drei Buchstaben – die Buchstaben „v“, „o“ und „n“ - in seinem Namen fehlen, die zwar in dieser schweißdurchsetzten und nach Öl riechenden Epoche, in der wir leben, ihre Existenzberichtigung völlig verloren haben, aber in hiesiger Gegend durchaus die Reputation bestimmen oder doch zumindest mitbestimmen. (Man ist in Lymas Stadt noch immer stolz darauf, vor vierhundert Jahren eine Maitresse des vierzehnten Ludwig beherbergt zu haben – ganz zu schweigen vom Stolz auf den barocken Lustgrotten-, Nymphen- und Puttenkitsch des denkmalgeschützten Konkubinenschlösschens. Man bildet sich auch nicht wenig darauf ein, dass hier einst die Wiege dieses Burschen stand, der zu einem der größten Lüstlinge, Menschenschinder und Tyrannen der Geschichte wurde  - der Stolz darauf, dass dieser Despot hier geboren wurde, reicht so weit, dass seine Wiege das Stadtwappen ziert.)


    Aristokratie heißt wörtlich „Herrschaft der Schönen und Guten“. Gut und schön, mag nun mancher denken, war so eine Herrschaft zuweilen in weit entlegenen Zeiten, aber doch nicht in der Gegenwart, in der einzig das Ölhaltig-Schweißdurchtränkt-Nützliche eine gewisse Existenzberechtigung garantiert. Man mag nun weiter denken, die Aristokratie sei außerdem aller sozialen Funktionen entkleidet, selbst ihrer ursprünglichsten: der des Herrschens. Die aristokratische Gesellschaft ist fies, fix und fertig, rundherum geschlossen und braucht außer sich selbst eigentlich nichts und niemanden mehr. Sie ist, allen soziologischen Regeln folgend, gewissermaßen inexistent, weil völlig überflüssig. Selbst das Gesetz der Trägheit erklärt nicht ihr Weiterbestehen innerhalb moderner sozialer Widersprüche. Das alles bleibt, fein abgewogen und zur Farce vermischt, lediglich eine ordentliche Füllung für einen soziologischen Festtagsbraten, ist also etwas für Feinschmecker, für Typen wie Lyma.

    Sich diesem soziologischen Festtagsbraten als Bürgermeister vorzusetzen, sich diesem aufzupfropfen, ohne dazu zu gehören – das ist die Kunst, die Lyma auszeichnet. Dazu gehört Spürsinn – und mehr als dies, denn Spürsinn, der im niedrigen Strebertum des Emporkömmlings, also im Spießertum, wurzelt, reicht nicht dazu, eine Gesellschaft solchen Ranges für sich zu erobern. In ihr arriviert man nicht so leicht, ihr gehört man an – oder eben nicht! Da hilft auch kein Geld - Geld? Geld ist ordinär! – und kein Geist - Geist? Geist ist anrüchig! (Natürlich darf man sich Lymas ersten Auftritt nicht mit konzentriertem Scheinwerferlicht, dreifachem Tusch und erregten „Ahs!“ vorstellen. Dazu war er zu unbedeutend. Außerdem: In gehobenen Kreisen verkehrt man distinguiert, diskret und dezent miteinander.) 


    In einer Stadt, in der der Rhythmus des Lebens außer vom Geldverdienen von der Rasenpflege bestimmt wird, hat er seinen großen Coups mit einem einfachen Wahlprogramm – „Sicherheit und Ordnung und Wohlstand“ – und mit dem Bau menschenwürdiger Sozialwohnungen gelandet, womit er der Kommunalpolitik eine neue Richtung gegeben hat und sich als weitsichtiger Politiker profilieren konnte. Seine Stammwählerschaft allerdings sind die maghrebinischen Bewohnern solcher Sozialwohnungen nicht, sondern die  degenerierenden Resten alteingesessener Aristokratie und Ehepaare mit abgezählten Kindern, die nach dem Versandhauskatalog gekleidet sind. Angehörige dieser beiden Gesellschaftsgruppen vermag Lyma schlau in Gespräche zu verwickeln, die anfangs durchaus angenehm verlaufen, sich dann durch das Heben seiner Stimme beleben, bis Lyma durch die Beschleunigung seiner Rede zu monologisieren beginnt und daher am Ende stets unwidersprochen bleibt. 


    Lyma trägt sein Kinn ständig so hoch aufgereckt, dass man seinen dürren Hals und seine hohe Moral sieht. Um über den Ballast des Zwangs hinwegsehen zu können, stehen seine Augen ein wenig hervor. Er trägt eine Brille, die den Vorteil hat, dass damit seine Wangenfalten auseinandergedrückt werden, was ihn jünger aussehen lässt, als er ist.


    Streng genommen hasst er niemanden. Doch da sein Blick etwas zu schief, seine Nase etwas zu spitz, die Fingernägel etwas zu gerade geschnitten und die Wangenfalten fein glatt gedrückt sind, sieht er aus, als wollte er jeden Augenblick den anderen anspringen und ihn erwürgen. Um diesem Eindruck zu widersprechen, hält er sich schön angespitzt und gerade wie ein Bleistift. 

    Trotzdem hält sich Lyma für jeden Eventualfall vorbereitet. Deshalb schläft er in Jackett und Krawatte und verwahrt unter dem Kopfkissen den Code Napoléon und das Bürgerliche Gesetzbuch. 

    Denn Lyma ist ein Mann einschlägiger Prinzipien, die seine hohe Moral ausmachen. Bereits beim Aufstehen  murmelt er sie vor sich hin: „Sicherheit und Ordnung“  - manchmal nur ergänzt durch „Wohlstand“ - einen weiteren Aspekt seines Programms. Es ist ein zugegebenermaßen knappes, aber deshalb präzises politisches Programm – kurz und klar, einleuchtend und einprägsam für jedermann, glaubwürdig und unparteiisch allen gegenüber.


    Um sein politisches Programm zu unterstreichen, blickt Lyma fest und entschlossen. Das überzeugt auch ihn selbst am meisten. Fest und entschlossen blickt er zum Beispiel aus dem Fenster seines Amtszimmers. Tut er dies, so gleitet sein Blick fest und entschlossen, aber durchaus auch wohlgefällig über gemähte Rasenflächen und gepflegte Blumenbeete mit der Aufschrift „Betreten verboten!“. Mit vollendeter Selbstverleugnung blickt er entschlossen ins Nichts der mit Betunien, Organien, Begonien und Geranien in Reih’ und Glied bepflanzten Rabatten, „Sicherheit und Ordnung“ vor sich hin murmelnd und Neutralität gegenüber jedermann wahrend. 


    Probleme hat Lyma außer mit seinen Armen und Händen keine. Mit diesen Körperteilen allerdings weiß er nicht, wohin. Hält er die Hände vor dem Bauch gefaltet, so schweben sie um einige Millimeter nur über seinen Genitalien, was nicht nur komisch aussieht, weil man glaubt, er könnte sich etwas antun, sondern auch peinlich ist, weil man ihm nicht zutraut, dass er etwas damit anzufangen wüsste. Verschränkt er seine Arme auf dem Rücken, so erweckt dies den Anschein, dass er ein Faulpelz und Nichtsnutz sei, was er unbedingt vermeiden möchte. Faltet er sie vor der Brust und stützt sein Kinn in einer Hand ab, so erweckt dies den Eindruck, er wolle einen Denker oder Philosophen geben, was man ihm nun ganz und gar nicht abnimmt – denn schließlich ist er ein Mann der Tat.


    Lymas höchstes Ziel ist es, Abgeordneter im Parlament zu werden. Einmal schon hat er kandidiert, ist aber bei den Wahlen durchgefallen. Neuerdings beschäftigt er deshalb einen professionellen Panegyriker, der ständig um ihn herumzuschlawenzeln hat, um die schönsten Lobpreisungen auf diesen Prachtmenschen zu komponieren, die dann wenige Tage später im städtischen „Kurier“ erscheinen. Unablässig beschreibt dieser Journalist Lymas politische Erfolge, schreibt über das von ihm initiierte Ostereiersuchen für sozial benachteiligte  Kinder im Stadtpark, über den von ihm angeregten Wettbewerb um den schönsten Geranienbalkon und das schönste Blumenfenster der Stadt, über seinen unermüdlichen Einsatz für die Videoüberwachung öffentlicher Plätze, über abgehaltene Festakte zur Ehrung alter Kombattanten, über Militärparaden und all die anderen schönen Traditionen. Er lässt es sich auch nicht nehmen, die städtische Bevölkerung höchstpersönlich zu patriotischen Diensten aufzufordern, die - wie der Entfernung von Hundekot - der Sauberkeit der Stadt dienen.


    Kein Opfer ist Lyma zu groß, um der Bevölkerung anlässlich von Botschafterbesuchen, anfälligen Fahnenweihen, hundertjährigen Waffenstillstandsjubiläen, ewigen Flammen und Siegesfeiern seinen dürren Hals, sein spitzes Kinn und seine hohe Moral zu zeigen. Lyma liebt solch andächtige Momente. Er liebt es, für einige feierlich zu empfindende Minuten neben der ewigen Flamme am Grab des unbekannten Soldaten zu stehen - natürlich steht bei solchen Anlässen sein professionelle Panegyriker dabei und weiß in der nächsten Nummer des „Kurier“ Lymas hohe Moral herauszustreichen.  Dort liest man auch, dass es Lyma nicht nur gelungen ist, die Stadt von Prostituierten und Hundekot zu säubern, sondern auch die Geburtenrate über den Landesdurchschnitt zu heben - und dies, ohne dass in dieser Stadt die öffentliche Ordnung durch etwaige Lustschreie gefährdet sei. 

    About

    2021

    Axel Barner

    Berlin

    Weitere Informationen

    °4

    Eine kurze Geschichte über eine Katze

    Ich könnte vielleicht Tischtennisspieler werden. Tischtennisspieler führen ihre Bewegungen so schnellkräftig, so geschickt aus. Nach jedem gewonnen Punkt feuern sie sich an. 

    Oder ich werde Skispringer, dafür müsste ich allerdings in die Berge ziehen, dorthin, wo es Skisprungschanzen gibt. 

    Es muss aber nicht unbedingt eine Sportart sein. Es kann auch Kunst sein, vielleicht bildende Kunst.


    Du musst herausfinden, was deinem Wesen entspricht, sagt meine Freundin. Nicht jeder ist zum Skispringer geboren.


    Dass sie laut von meinem Wesen spricht, macht mich wütend.  


    Bis wir ins Bett gehen, habe ich noch drei Stunden. Ich setze mich im Wohnzimmer aufs Sofa. Bald merke ich, dass mir kalt ist. Ich stehe auf und gehe zur Gastherme. Auf dem Rückweg laufe ich meiner Freundin über den Weg. Sie kommt aus meinem Arbeitszimmer und läuft jetzt vor mir. Offenbar wollen wir beide ins Wohnzimmer. Ich laufe hinter ihr her durch den Flur. Das kommt mir unangemessen vor. Als dürfte man innerhalb einer Wohnung nicht so dicht hintereinander herlaufen. Als müsste man sich innerhalb einer Wohnung immer an unterschiedlichen Orten aufhalten. Oder als müsste man den anderen, wenn man sich an demselben Ort aufhält, auch anfassen. 


    Meine Freundin legt irgendetwas ab und verschwindet wieder. Ich setze mich wieder auf das Sofa. Ich könnte mal wieder ins Internet gehen. Statt dessen gehe ich mal wieder auf den Balkon. Ich schaue auf die Straße, auf eine Katze, die plötzlich neben einem Auto auftaucht und die Straße überquert. Ich denke, dass ich jetzt hierüber irgendeine Erkenntnis haben müsste. Die Wörter schwarze Katze von linksgehen mir durch den Kopf und schmecken schal. 


    Im Bett fragt mich meine Freundin, ob ich mich entschieden hätte. Entschieden, wofür?, frage ich sie. Fürs Skispringen, sagt sie. Ich spüre, dass sie sich über mich lustig macht. Sie löscht das Licht und daraus schließe ich, dass wir jetzt schlafen.


    Am nächsten Morgen sitzen wir gemeinsam am Küchentisch. Wir haben jetzt schon mehrere Minuten nichts gesagt. Meine Freundin schaut mich immer wieder kurz an, offenbar sucht sie bei mir nach der Schuld. Ich überlege mir, was ich zu ihr sagen könnte. Ich könnte fragen, ob ihr das Müsli schmeckt. Sie würde sagen, dass es wie immer schmeckt. Ich könnte fragen, was sie heute bei ihrer Arbeit erwartet, aber sie würde stöhnen und sagen: Frag nicht. 


    Auf dem Weg zur U-Bahn sehe ich an einer Laterne einen Zettel mit dem Foto einer entlaufenen Katze. Dann sehe ich die Katze selbst. Sie schleicht um eine Parkbank herum. Es ist die Katze, die ich auch am Vorabend gesehen habe. Ich gehe weiter und als ich schon in der U-Bahn sitze, frage ich mich immer noch, was die richtige Reaktion gewesen wäre. Ich sehe mich, wie ich die Katze in der einen Hand halte, wie ein Jäger seine Beute. Ich sehe mich, wie ich mit der anderen Hand eine Nummer wähle. Ich sehe die Tränen einer alten Frau.  


    Am Abend fragt mich meine Freundin, was mit mir los sei. Sie fragt: Bist du sauer?

    Warum sollte ich sauer sein?, frage ich.


    Ich verlasse noch mal die Wohnung. Meine Freundin schaut mich erschrocken an. Wohin gehst du?, fragte sie. Ich suche eine Katze, sage ich. 


    Ich gehe Richtung U-Bahn. Auf der Parkbank sitzen eine Schülerin und ein Schüler, die beiden sind offenbar aneinander interessiert. Das Mädchen hat seine Hand auf den Oberschenkel des Jungen gelegt. Der Junge hat seine Hand um den Hals des Mädchen gelegt, als wollte er es würgen. Ich frage sie, ob sie eine Katze gesehen haben. Sie schauen mich an, als käme eine Antwort von vorneherein nicht in Frage. Der Junge schaut aggressiv, das Mädchen lacht mich aus und zeigt seine Zahnspange. Ich schaue unter der Bank, ich schaue hinter der Bank, das Mädchen fühlt sich von mir belästigt. Verpiss dich, sagt der Junge. Ich schaue in dem Gebüsch hinter der Bank, ich durchsuche den ganzen Park. Das Pärchen ist aufgestanden und gegangen. Die Katze ist nicht mehr da.


    Ich kehre zurück. Meine Freundin telefoniert mit ihrer Mutter. Sie schaut mich nicht an. Ich gehe ins Bad und dusche lange. Ich fühle mich besudelt. Wir reden den ganzen Abend nicht miteinander. Ich frage mich, was ich falsch gemacht haben könnte. Ich komme zu dem Ergebnis, dass ich mir nichts vorzuwerfen habe. Im Bett habe ich den Wunsch, mit ihr zu schlafen. Sie fragt mich, ob ich verrückt wäre. 


    Am nächsten Abend bin ich vor meiner Freundin zuhause. Als sie kommt, zieht sie sich nicht die Schuhe aus. Sie sagt, dass sie sich nur ein paar Sachen holen wolle, dass sie bei einer Freundin übernachten werde. Ich sage ihr, dass sie das selbst entscheiden könne. Dass sie jeden Abend neu entscheiden könne, wo sich übernachten möchte. Dass sie bei mir alle Freiheiten hätte. 

    Sollen wir uns trennen?, fragt sie.

    Ich sage: Wir können uns trennen oder wir können zusammen bleiben, das sind unsere Möglichkeiten.

    Als sie wieder geht, applaudiere ich ihr. 


    Am nächsten Tag ruft sie mich an und teilt mir mit, dass sie mich verlassen werde. Ich willige ein. Dann sage ich: Ich würde dir nur noch gerne die Geschichte über die Katze erzählen. Ich erzähle die Geschichte und am Ende fragt mit meine Freundin, was das mit ihr zu tun hätte. Gar nichts, antworte ich. Das war keine Geschichte über dich, das war eine kurze Geschichte über eine Katze. Sie legt auf.


    Am Nachmittag kommt ein Polizist. Eine Katze sei tot in einem Gebüsch im Park gefunden worden. Zwei Teenager hätten mich am Vorabend in diesem Park beobachtet. 

    Ich habe die Katze getötet, sage ich. 

    Warum haben Sie das getan?, fragt der Polizist.

    Ich war wütend, sage ich. Ich hatte mich mit meiner Freundin gestritten.

    Und dann töten Sie Katzen?, fragt der Polizist

    Nein, sage ich.

    Also haben Sie die Katze nicht getötet?, fragt der Polizist.

    Doch, sage ich.

    Und warum?, fragt der Polizist.


    Ich bitte ihn hinein. Ich serviere Eierlikör. Wir setzen uns nebeneinander auf das Sofa. Ich suche nach einer anderen Erklärung. Das Wort Selbstwirksamkeitserwartung geht mir durch den Kopf. 

    Ich sage: Mir fehlt das, was man heute Selbstwirksamkeitserwartung nennt.

    Der Polizist nickt verständnisvoll.


    Nachdem er meine Personalien aufgenommen hat, habe ich noch eine Frage. Soll ich Tischtennisspieler oder Skispringer werden? frage ich ihn. Der Polizist überlegt. Dann sagt er: Tischtennis ist eine schöne Sportart. Tischtennisspieler führen ihre Bewegungen so schnellkräftig, so geschickt aus...

    ...Und sie jubeln nach jedem Punkt, ergänze ich.

    Als Skispringer müssten Sie hingegen in die Berge ziehen, dorthin, wo es Skisprungschanzen gibt, sagt der Polizist.

    An der Tür frage ich ihn: Könnte ich nicht auch bildender Künstler werden?

    Auch das käme in Betracht, sagt der Polizist, während er schon die Treppe runtergeht.

    About

    2021

    Johannes Bruckmann

    Berlin

    °5

    Draußen im Atlantik

    Ich hatte keine Anleitung für das Liegen. Im Traum entwickelte ich eine und wendete sie an, entwickeln und anwenden, im Wechsel und Schritt für Schritt. Ich probierte sie aus. Eine Bedienungsanleitung für die wechselnde Verschränkung von vier Armen und vier Beinen unter Berücksichtigung von zwei Körperdrehungen während der Nacht. Eine Nacht, die kurz war. Hochgeschreckt sei ich immer wieder, gewälzt hätte ich mich und geknistert hätte es bei jeder neuen Wälzung. Unter mir knirscht es. Tatsächlich. Eine knirschende Unterlage. Warum knirscht sie? Ich liege auf Plastik. Auf einer  Plastikauflage wie sie im Krankenhaus verwendet wird gegen Verschmutzung und einem sogenannten Matratzenschutz vor Inkontinenz. Ich bin aber in keinem Krankenhaus, also muss das Plastik weg. Jede Umdrehung war gefolgt von meinem Hochschrecken. Wir sind auf einer Insel, vielleicht dreht die sich um sich selbst, schwimmend im Meer. Wir umschifften die Insel, durchquerten, durchfuhren, durchliefen sie kreuz und quer. Nun sind wir am Meer.

    Um mich stürmt es, ich höre ein gleichmäßiges Rauschen von weit hinten kommt es her. Vom Meer kommt es, das gleichmäßige Rauschen im Unterschied zum Wind, der stoßweise auftrifft, auf Mauern, auf Hecken, um mich herum wirbelt, der allmählich nachlässt, nur langsam wieder vergeht, lange zart ausläuft, bis er von Neuem zustößt. 

    Wir sind in einer Behausung, die sich vor uns versteckt hatte. Dass sie da war auf dieser Insel, dessen war ich mir gewiss und verbiss mich in ihr Finden. Aber nun haben wir sie und nun kann es endlich beginnen, von Eindrücken zu reden. Sie festzuhalten. Über mir rascheln vertrocknete Palmenblätter. Jeder neue Windstoß führt zu neuem Rascheln. Es raschelt  wie ein zerknüllter Papierberg raschelt, in den man mit beiden Händen hineinfährt, laut und doch sanft, ein Begleiter der Windbewegungen. Noch ist es Nacht, vor mir auf einem klapprigen Tisch liegt Papier. Also beginne ich. Ich habe schon begonnen mit der Beschreibung der im Traum der kurzen vergangenen Nacht vorgestellten Betriebsanleitung für das Schlafen mit vier Armen und vier Beinen. Halbschlafend war es mir, als wäre sie mir abhanden gekommen, wo ich sie doch gerade erst entwickelt und angewendet hatte, als wäre das Bewährte schon nicht mehr da in den letzten Zügen der Nacht. Stattdessen füllte das Knirschen und Knistern unter mir bei auch der nur kleinsten Drehung übermäßig alle Zwischenräume, die wir gelassen hatten, und überdeckte  Momente zwischen dem Schlaf. Das muss raus. Weg muss es. Das Plastik. Auf einer Insel herumzuknirschen geht nicht. Sie knirscht nicht. Nicht mehr. Ihr Knirschen hat sie hinter sich. Das ist Tausende und Millionen Jahre her. Sie knirschte sich aus dem tiefsten Meeresgrund nach oben, dann explodierte es auf ihr und dieses Es brachte sie zum Leben. Riesiges, in alle Richtungen fließendes Gestein dängte sich in sprühende Gischt des Meeres, im dem alles Aufgeplatzte langsam, knisternd wieder zur Ruhe kam. Seit langem nun schon erstarrt ist. Unvorstellbar lang. Wenn wir in diesem wie einem zu Stein erstarrten Gewitter zwischen Felswänden rechts und links in tiefen, schwarzen Binssteintälern gehen, in dem schmalen Band zwischen Wand und Meer, bekommen wir in den kurzen Unterbrechungen dieser Wand eine Vorstellung von der Inselform. Ein Rundes, Kugeliges hat sich aus den Meerestiefen herausgewälzt und ist bis heute zu meinem Erstaunen fest. Es ist uns, als säßen wir wie auf einer Pilzhaube, auf der Krone eines großen Pinienbaums, dessen langer Stamm mit seinen starkverzweigten Wurzeln im Meerwasser nur zu erahnen ist. Das aber ist eine falsche Ahnung, denn wir wissen, dass wir nicht auf einem Pinienpilz sitzen und von dort herunterschauen. Unter uns geht der Stein bis an den Boden des Meeres, wo ist er, weiter, ein in ihm fest verankerter Fels muss es sein, denn er trägt die Kugel und uns alle auf dieser Kugel sicher durch die Fluten. Lässt eigen-artige Pflanzen auf ihr wachsen. Schreiend. Gellend. Gestern begegneten uns in berghohen Wüstendünen große Bälle mit langen Stacheln wie ein Igel sie auf sich trägt, sein Kugelkleid. Überraschend, wo sonst nichts ist, schoben sich fünf Stachelbälle uns entgegen. Sie setzten sich, kaum dass sie uns bemerkten, in Trab. Palmengewächse sonderbarster Art. Wir liefen ihnen entgegen und umfassten ihre Stacheln, fest wie Beton. Stille zog ein.
    Ich höre, noch ist es  nachtdunkel, vertrautes  Amselsingen um mich herum, vom Wind getrieben, im Kreis gedreht, an mein Ohr gedrängt. Sitzen sie auf solchen Igeln? Weich wie Samt mit langen Stacheln. Die Igel. Die Kakteen inmitten der kanarischen Vögel, die verdeckt hinter dicken Kautschukblättern hocken, ihren Singsang zwischen ihren Amsel-Artgenossen von sich geben.

    Gleich gehen wir runter zum Meer, das rauscht. Gleichmäßig. Die Gleichmäßigkeit möchten wir nun sehen. Es beginnt zu dämmern. Ein kurzer Moment. Schnell, wenn wir uns nicht beeilen, ist es hell. Um uns zu überzeugen, dass wir auf einer runden Insel sitzen im Sand, subtropische Luft inhalieren, gehen wir rechtzeitig los. Kleinstes, flimmerndes Licht hebt sich und konturiert die Küste. Vor Sonnenaufgang. Dort unten an der Meeresküste werden wir den morgendlichen Amselgesang nicht hören können. Sollen sie bloß auf ihren Palmenigeln sitzen bleiben und zwischen Gummibäumen tändeln, sollen nur nicht im Meer versinken. 

    Kurzstämmig und kräftig gewachsene Palmengewächse mit großen, kreisrunden Wedeln fächern sich Luft zu. Sie sind bekleidet, ihr Kleidchen läuft abwärts an ihrem Stamm herunter wie es sich gehört. Große, sehr hohe Palmen bemänteln sich mit den an ihnen herunterhängenden, abgestorbenen und nun, oder schon lange, gänzlich ausgetrockneten Palmenwedeln. Wir sehen ein Umwickeln mit ihren Wedeln. Zum Schutz? Vielleicht vor den langen, spitzen Stacheln der Kakteen, die ungerührt zwischen ihnen jeden freien Platz belegen. Der weich-samtige Stachelkaktus. Aus seiner Fellhaut staksen lang und spitz wie Dolche Stachel groß und frei in der Luft, unberechenbar was passiert, wenn wir zwischen ihren Auswuchtungen herumspazieren. Gefährlich, dabei ihre Gefährlichkeit vertuschend. Sie sind wie wir.

    Drachenbäume strecken ihre knubbeligen Arme, dick wie der Stamm, in die Höhe, gleichmäßig aufragend. Gebündelt zu einem übermäßigen Blumenstrauß. Mit der verschrumpelten Hautrinde ihrer Arme solche wie von alten Leuten tariert der Baum den Himmel aus. Wir schauen hoch, wir folgen ihren Läufen. Möglich dass sie uns etwas mitteilen wollen, das nur sie von weit oben erfahren. Wir starren sie an. Wir warten. Geduldig. Wir verlieren uns dschungelartig. Dann laufen wir getrieben und mit einer Furcht in uns, vielleicht vor uns selbst, tiefer in diese Wälder hinein und lassen uns von dem ineinander Verworrenen, dem Verwurzelten und allem daraus hoch Aufschießenden leiten. Wir sind erregt, gereizt, von was, wir wissen es nicht, wir hören nicht auf zu laufen und wir können es nicht lassen, das Fell auf den großen Ohren zu streicheln und uns der Stacheln zu vergewissern. Ihre balligen Knospen und diese zu aufgegangen Blüten verwandeln die Ohren zu Füßen,  Knospe und Blüte sind die Zehen. Die Kakteen, meine Freunde! Weich wie Samt, Fakirliegen. Heftiger als durch Knirschen und Knistern wäre hierauf zu liegen auch mit Hochschrecken verbunden. Zum Glück aber habe ich eine Anleitung für das Liegen entwickelt, im Traum in einer Nacht, die kurz war. 

    About

    2021

    Sabine Rothemann

    Kenzingen

    Weitere Informationen

    °6

    Atari

    Es ist hell in meiner Wohnung. Ich spür die Sonne scheinen auf meiner Haut. Ich stehe auf, bin aufgewacht, mache mich fertig, mache dir vor, dass ich noch sehen kann. Denn die Wahrheit ist, dass ich blind bin und nicht weiß, was auf mich zukommt an jedem nächsten Tag. Ich taste mich vor, zu dem was mir entgegenkommen mag. Die Wunden in meinem Fleisch sind Steine auf einem Brett geworden. Jeder neue Schmerz ein neuer Stein, den ich dahin zu setzen pflege wo dem, der mir was antut, dasselbe zukommen mag. Was mir fremd ist, ist mir Freund. Ich bin mir selber fremd geworden. Vielleicht macht dies die Stille in meiner Wohnung so erträglich, dass ich niemanden habe, nur mich.

    Nachts hocke ich da. Im Schatten leuchten Sterne heller. Wünsch dir was. Ich warte auf den Tag. Und wenn er da ist merkt niemand, wie ich dann hinter mir stehe. Denn der Umriss am Boden ist wie eine unsichtbare Hand. Die Fäden an denen ich ziehe, lassen sich nicht verschleiern, aber der Körper lenkt ab vom Geschehen, dass ich mich von Außen betrachte, um zu sehen, was ich da treibe. Denn wenn es ihn trifft, trifft es nicht mich. 

    Ich habe mein Herz von der Bühne entfernt. Jemand anderes spricht die Worte. Jemand anderes spricht mein Herz. Und während ich das Geschehen so betrachte, bemerke ich, den Zaubertrick, den ich nicht wirklich glaubte. Indem du meine Worte sprichst, ziehst du mir mein Herz aus deinem Hut und wirfst es mir an meinen Kopf. HaHa. Es pocht in meinem Schädel. Und aus der Wunde wird ein Stein, der sich in mich versenkt. Riffeln auf der Oberfläche verschleiern was ich denke. Die Ruhe selbst kehrt ein. Wie eine Maske trag ich sie, als Gesicht, lass das Licht nicht weiter auf mich fallen. Ich stehe gerade in meinem eigenen Schatten. Und wenn der verschwindet, wird Eins und Eins wieder Eins und ich bin blind. Die Sonne scheint.

    Es heißt dabei, die alte Fabel, dass jeder von uns zwei Hunde in sich trägt, der eine rücksichtslos und egoistisch, der andere gut und hilfsbereit, der eine heißt Verletzung, der andere– sie beide kämpfen miteinander, sie beide kämpfen hungrig um ihr Fleisch. Gewinner ist der, den du fütterst. Doch ich kann den einen nicht vom andern unterscheiden, so tief ist meine Wunde; wenn die Sonne scheint ist Eins und Eins gleich Eins. Denn kein Schatten bleibt mehr übrig in dem ich mich verstecken könnte. Sichtbar wird die Hand mit der ich mein Leben lenke. Ich taste mich heran, ganz langsam. Ich kann dich nicht unterscheiden von dem was schmerzt. Was mir lieb ist, macht mich verwundbar. Dass ich blind bin, macht mich sicher. 

    About

    2021

    Daniel Schulz

    Köln

    @DanielSchulzpoet

    Weitere Informationen
    • drama.
    • lyrik.
    • prosa.
    • das magazin: print.
    • einsendungen: 2:2022
    • datenschutzerklärung.
    • impressum.
    • haftungsausschluss.

    Copyright © 2021 Salut absurde – Alle Rechte vorbehalten.

    Unterstützt von GoDaddy

    Diese Website verwendet Cookies.

    Wir setzen Cookies ein, um den Website-Traffic zu analysieren und dein Nutzererlebnis für diese Website zu optimieren. Wenn du Cookies akzeptierst, werden deine Daten mit denen anderer Nutzer zusammengeführt.

    AblehnenAnnehmen